Das grösste Weihnachtsgeschenk hat Riad Selini (34) schon. Es ist über zehn Meter lang und bietet Platz für 74 Fahrgäste. Seit dem 1. November darf der Quereinsteiger Fahrgäste im gelben Postauto von Tesserete TI ins Valcolla TI kutschieren und zurück. Mit viel Respekt, betont der Tessiner. Die erste Feuerprobe hat er hinter sich: «Ich geriet schon in Schnee und Eis. Musste Autos ausweichen, die quer standen. Sogar am Bus Ketten anlegen – und die sind verdammt schwer.»
Dass der zweifache Familienvater eines Tages Bus-Chauffeur sein würde, hätte er sich nie träumen lassen. Denn eigentlich ist er Gipser von Beruf. In den letzten Jahren blieben die Baustellen zunehmend aus. «Schliesslich war ich arbeitslos», sagt Selini. Dann kam das Angebot der Postauto AG. «Ich durfte den Bus-Führerschein machen, und los ging es», erzählt er stolz und fügt an: «Bei der ersten Fahrstunde dachte ich, ich sitze im Flieger.» Bis zu 15'000 Franken kostet die Fahrausbildung. «Das Geld hätte ich nie aufbringen können», sagt Riad Selini. Sein Glück: Der Busführerschein gilt als Umschulung und wurde vom Kanton bezahlt.
Den neuen Job verdankt der Ex-Arbeitslose aus Tesserete einem Mammutprojekt des Kantons. Der Tessiner ÖV wird für 461 Millionen Franken ausgebaut. Seit einem Jahr läuft das Programm. Insgesamt wurden in den fünf Regionen des Südkantons 276 neue Fahrer rekrutiert – über 1700 hatten sich beworben. Gut die Hälfte kam vom Arbeitsamt. Die allermeisten sind Quereinsteiger. Pünktlich zur Eröffnung des Ceneri-Tunnels am 13. Dezember 2020 greift auch der neue Busfahrplan: 150 neue Bus-Chauffeure, 50 neue Busse und sechs neue Buslinien präsentiert allein die Postauto Süd.
«Auf unseren Hauptlinien gilt neu der Halbstundentakt. Der erste Bus startet um 4.05 Uhr, der letzte um Mitternacht. Jeder, ob Tessiner oder Tourist, soll bis sechs Uhr morgens das nächste grössere Zentrum erreichen können.», sagt Alex Malinverno (46), Verkaufsleiter der Postauto Süd.
Voraussetzung für die Bewerbung zum Bus-Chauffeur: ein PKW-Führerschein, ein sauberes polizeiliches Führungszeugnis und grosse Lust auf die Herausforderung. Das alles hatte Ulla Codiroli (39) aus Rivera TI. Die Tessinerin fährt privat bei der freiwilligen Feuerwehr das Löschfahrzeug, hat schon einen LKW-Führerschein. Bevor Ulla Codiroli den Aufruf «Start mit FART» las, leitete sie die Mensa einer Behinderteneinrichtung in Manno TI.
Denn auch die regionalen Bus- und Bahnbetriebe FART in Locarno TI suchten Busfahrer. Die alleinerziehende Mutter eines Sohnes (11) bewarb sich – und bekam den Job. Neun Tonnen, das war bislang ihr Kaliber. Jetzt sind es 27. Cool lenkt sie heute den 18 Meter langen Riesen durch den Stadtverkehr von Locarno – nach nur sechs Wochen Praxiserfahrung. «Ist schon ein Unterschied zum Löschfahrzeug. Das Fahren macht mir aber viel Spass!» Selbstbewusst fügt sie hinzu: «Wir Frauen können das genauso gut wie die Männer.»
«Jeder zehnte unserer neuen Chauffeure ist eine Frau», sagt der Direktor der FART. Der Busbetrieb hat sein Angebot fast verdoppelt. Dafür wurden 66 Busfahrer eingestellt. «Unsere Wunschkandidaten sollten möglichst verheiratet sein und im Alter zwischen 30 und 35 Jahren», erklärt Claudio Blotti (55) weiter. Denn: «Wir wollten Fahrer, die im Territorium verwurzelt sind und bleiben.»
Pietro Carriuoli (22) aus Castione TI passt nicht ins Muster. «Mein Onkel ist Bus-Chauffeur. Ich wollte das auch werden», sagt der gebürtige Italiener. Vorerst landete er im Büro einer Reiseagentur. Die Chance zum Traumjob kam von der FART. Nach 52 Fahrstunden hält Pietro stolz den «Führerschein D» in der Hand. «Ich bin so glücklich», sagt der Berufsanfänger. Und verspricht: «Hier möchte ich bis zur Pensionierung bleiben.»
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